(geboren 1985 in Lublin, lebt in Berlin)
Begründung der Jury:
In ihrem scharfsinnigen Werk behandelt Agnieszka Polska einige der dringendsten Fragen unserer Zeit. Sie baut eine poetische und affektbetonte Spannung zwischen den visuellen und akustischen Sprachen unseres digital geprägten Alltags auf. Dabei bezieht sie sich auf moderne und zeitgenössische Weltentwürfe, wie naturwissenschaftliche Theorien, frühe Animationsfilme und die utopischen Tendenzen der Avantgarde. Ihre Arbeiten gleichen Untersuchungen zu den unterschiedlichen Zeitlichkeiten in unserem Universum, die unsere Vorstellungen von Menschsein und Menschlichkeit in Frage stellen. Ihre Perspektive lässt sich mit einem Satz des Sonnen-Charakters aus ihrem ausgestellten Film beschreiben: „Mein Blick bewegt sich in konstanter Geschwindigkeit und alles wurde unumkehrbar in dem Moment, in dem ich es sah.“ Die Jury gratuliert Agnieszka Polska und freut sich auf ihre Ausstellung in der Nationalgalerie im Herbst 2018.
27. September 2018 – 3. März 2019
Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin
In der für die Ausstellung im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin entstandenen Mehrkanal-Videoinstallation The Demon’s Brain befasste sich Agnieszka Polska mit der ethischen Frage, wie der*die Einzelne angesichts einer überfordernden Gegenwart gesellschaftliche Verantwortung übernehmen kann. Ausgangspunkt der Arbeit waren Briefe aus dem 15. Jahrhundert, die an Mikołaj Serafin, den Verwalter der polnischen Salzbergwerke, gerichtet waren. In The Demon’s Brain erzählte Polska in einer Mischung aus Realfilm und Animation die fiktive Geschichte des reitenden Boten der Schriftstücke. Auf seinem Weg verliert der Junge sein Pferd und verirrt sich in einem Wald. Dort hat er eine unerwartete Begegnung mit einem Dämon, in dessen Monolog christlich-theologische Vorstellungen mit heutigen Entwicklungen und Zuständen von Rohstoffverbrauch und Umweltzerstörung, Datenökonomik und Künstlicher Intelligenz in Verbindung gebracht werden.
Die Installation The Demon’s Brain, konzipiert für die Historische Halle des Museums, bestand aus vier großformatigen Projektionsflächen und einer Wand mit Texten. Die Filme zeigten unterschiedliche Szenen, die zwar in Endlosschleife liefen. Allerdings waren sie so synchronisiert, dass sie sich ebenfalls gegenseitig kommentierten. Ein tiefer, unterschwelliger Rhythmus vereinte die Videos zusätzlich miteinander. Durch diese Verschränkung wurden Zeiträume überbrückt. Nachdem der Dämon den Boten wissen lässt, dass er den Lauf der Geschichte ändern könne, durchwanderte seine wiederkehrende Verkündigung „It is not too late.“ („Es ist nicht zu spät.“) die Historische Halle und verwandelte sich in einen Appell an den*die Betrachter*in.
In The Demon’s Brain verhandelte Agnieszka Polska die Möglichkeiten individueller Handlung und das Übernehmen von Verantwortung. Zwar scheint der Bote dem Aufruf des Dämons zu folgen, doch aus unserer Perspektive hat sich die Entwicklung mit diesem Eingriff wohl nicht geändert. Hat die Tat des*der Einzelnen dann überhaupt Einfluss auf die komplexen Abläufe der uns umgebenden Welt und wie lässt sich entscheiden, welche Maßnahmen tatsächlich richtig sind? Wem können wir bei dieser Entscheidung vertrauen?
Einen Ausweg deutete die Textwand an. Zwischen Auszügen aus den historischen Briefen an Serafin waren auch Kommentare zu den ökonomischen, ökologischen und technologischen Themen der Arbeit eingefügt, die aus den eigens für den begleitenden Katalog beauftragten Essays stammten. Der Handlungsfähigkeit von Subjekten standen Beschreibungen von abstrakten Prozessen gegenüber. Aktives Handeln, die Reflektion und der Austausch mit anderen sowie das Erkennen von langzeitlichen Mustern können erste Schritte sein, um die Ohnmacht der vermeintlichen Wirkungslosigkeit des persönlichen Tuns zu überwinden.
Sol Calero
Iman Issa
Jumana Manna
Agnieszka Polska
29. September 2017 – 14. Januar 2018
Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin
Jumana Manna erkundet in ihren Filmen und Skulpturen die Wechselwirkungen von sozialen, politischen oder zwischenmenschlichen Machtgefügen mit dem menschlichen Körper. Ihre Filme verknüpfen Fakt und Fiktion, Autobiographisches und Archivmaterial, um die Überschneidungen und Konstrukte nationaler und ideologischer Narrative zu untersuchen. Ein Bezug zu ihrer eigenen Person ist, wie bei dem ausgestellten Film über die Musiktraditionen der rund um Jerusalem lebenden Ethnien, für ihr Werk kennzeichnend.
In ähnlicher Weise fragt auch Iman Issa nach der Relevanz und Gegenwärtigkeit von geerbter Kultur. Bei ihren Skulpturen aus der Serie der „Heritage Studies“, die zunächst wie reduzierte Studien zu Form und Material wirken und einen primär formalästhetischen Diskurs zu führen scheinen, handelt es sich um die skulpturale und subjektive Aneignung alter Kunstwerke und Kulturgüter durch den heutigen Blick der Künstlerin. Issas Skulpturen, zu denen jeweils ein Text gehört, teilen mit ihren Vorbildern also andere Parallelen als eine visuelle und formale Ähnlichkeit.
Auf eine ebenso verschlüsselte Aneignung vorgefundener kultureller Erzeugnisse treffen wir in den beiden Animationsfilmen von Agnieszka Polska. Doch entstammen ihre Referenzen weder der fernen Vergangenheit, noch der Hochkultur. Vielmehr ist ihre Bildcollage ein verschlüsseltes Inventar der Gegenwart, das das kollektive Unbewusste heraufbeschwört, das sich World Wide Web nennt. Von einem beunruhigenden Unterton getragen, stellen die miteinander verknüpften Filme auf eine poetische und persönliche Weise die Frage nach dem Zustand der gegenwärtigen Welt und unserer Rolle und Verantwortung.
Ebenso wie Polska arbeitet auch Sol Calero mit einer uns bekannt erscheinenden Ästhetik. Ihr Interesse gilt einer „lateinamerikanischen Identität“ und deren kulturellen Codes. In ihren raumgreifenden Installationen verbinden sich Elemente traditioneller Architektur, die Ästhetik der Tropen und soziale Interaktion. Spielerisches verknüpft sich mit einem kritischen Ansatz, der das Paradoxon der „Selbst-Exotisierung“ verdeutlicht und Prozesse der Exotisierung ins Visier nimmt, die Bilder und Gemeinschaften in Klischees verwandeln.
Begründung der Jury:
Sandra Wollners ruhige Meditation über den Zyklus des Lebens scheint zwischen Dokumentarfilm und Fiktion zu schweben. Es ist ein Film über Leben und Tod auf vielerlei Ebenen und es ist ebenso – und noch grundsätzlicher – ein Film über Wiederholung: über die Wiederholung des Schicksals, über das Wiederkehren von Erinnerungen und ihre Ähnlichkeit zum Medium des Films als einem Bewahrer des Lebens in Form einer konservierten und wiederholbaren Erinnerung. Der Film, der in einem geräumigen Haus im Österreich der 1950er Jahre spielt, nutzt die Ästhetik und Atmosphäre von Archivmaterial. Die Kameraführung und die Art und Weise, wie Inhalte erzählt werden, haben den Anschein einer dokumentierten
Vergangenheit, die uns die Erzählerin aus erster Hand nahebringt. Ab und zu nimmt sie auch buchstäblich den Platz hinter der Kamera ein. Sie erzählt und zeigt uns Szenen aus ihrem Leben, die aus den Tiefen ihrer Erinnerung kommen und von einem Standpunkt jenseits ihrer eigenen Lebenszeit aus betrachtet werden. Der Zuschauer kann sich kaum des Gefühls erwehren, dass sie uns tatsächlich einen Einblick in ihre eigene, selbst erlebte Geschichte und die ihrer Familie gewährt.
Sandra Wollner überzeugte die Jury mit ihrer virtuosen Beherrschung der filmischen Sprache, die sie mit großer Genauigkeit, mit Kreativität und Leichtigkeit einsetzt. Sowohl in den sorgfältig orchestrierten als auch in den scheinbar beliebigen Momenten, zeichnet sich der Film immer durch enorme Präzision aus. Er ist ein zyklisches Puzzle, in dem sich jedes Teil zusammenfügt. Seine Teile sind auf vielerlei Arten miteinander verbunden und konstruieren eine narrative Struktur, die über eine lineare Erzählung weit hinausgeht. Die Grenzen zwischen einem experimentellen Kunstwerk, einem Dokumentarfilm und einem Spielfilm verschwimmen. Zudem scheint Wollners Arbeit die Stärken eines Romans, eines Gemäldes und einer musikalischen Komposition miteinander zu verbinden und Elemente zu verwenden, die nicht inhärent oder notwendigerweise filmisch sind. Das Ergebnis ist ein Kunstwerk, das sich schwer mit Worten beschreiben lässt.
Meret Becker
Alexander Beyer
Natasha Ginwala
Alice Motard
Alya Sebti
Zdenka Badovinac
Sven Beckstette
Hou Hanru
Udo Kittelmann
Sheena Wagstaff